Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Neue Zürcher Zeitung 30.04.2007
Potsdam - Ein bedrohtes Wirtschaftswunder

Wenn Elke von Kuick-Frenz, die Potsdamer Beigeordnete für Stadtentwicklung und Bauen, von ihrer Stadt berichtet, dann kann sie vor allem Erfolgsgeschichten präsentieren. Denn im Gegensatz zu vielen anderen ostdeutschen Städten, in denen Bevölkerungsverlust und Wohnungsleerstand an der Tagesordnung sind, konnte Potsdam in den letzten Jahren einen regelrechten Boom verzeichnen. Die Bevölkerung ist von 2001 bis jetzt von 128.000 auf 148.000 Einwohner gewachsen, der Wohnungsleerstand liegt derzeit bei 5 Prozent, für viele Wohnungen gibt es sogar Wartelisten. Die Prognosen sagen einen weiteren Anstieg der Bevölkerungszahl auf 166.000 Einwohner im Jahr 2020 voraus. Auch deshalb wurde Potsdam in einer jüngsten Wirtschaftsstudie des Basler Prognos-Instituts unter 439 deutschen Städten und Kreisen auf Platz 15 gesetzt, noch vor Hamburg, Frankfurt/Main und Köln.

Dieses Wachstum ist auch der Erfolg einer ungewöhnlichen Stadtentwicklungspolitik. "Wohnungsabrisse hat es bei uns nie gegeben", erklärt von Kuick-Frenz eine Potsdamer Besonderheit. Zwar musste auch Potsdam zwischen 1989 und 2001 einen Bevölkerungsrückgang von 143.000 auf 128.000 Einwohner und einen Anstieg des Wohnungsleerstandes auf 10 Prozent verkraften. Doch die Stadt zog aus dieser Krise unkonventionelle Konsequenzen. Im Gegensatz zur Bundesregierung, die 2001 ein Programm zum Abriss von 350.000 ostdeutschen Wohnungen beschlossen hat, und zum Land Brandenburg, das seine Wohnungsbauförderung zugunsten der Abrissförderung eingestellt hat, setzte Potsdam auf Sanierungsprogramme. Zugleich hat die Stadt eine Sanierungsstrategie beschlossen, die damals wie eine Provokation wirkte. "Wir haben ganz auf die Sanierung der Plattenbaugebiete gesetzt", berichtet Elke von Kuick-Frenz. In enger Kooperation zwischen der Stadt und den großen Potsdamer Wohnungsunternehmen wurden sämtliche Siedlungen aus der DDR-Zeit erneuert.

Heute erweist sich diese Strategie als Erfolg. Denn vor allem die Plattenbaugebiete haben in den letzten Jahren einen enormen Zuzug erlebt. Deshalb ist der Leerstand in diesen Siedlungen von 10 Prozent im Jahr 2001 auf aktuell 1,4 Prozent zurückgegangen. Für viele Plattenbauwohnungen gibt es sogar lange Wartelisten. "Nennenswerten Leerstand haben wir heute nur noch im Altbaubestand", erklärt von Kuick-Frenz.

Allerdings führt das Wachstum nun zu ganz neuen Sorgen. Denn mittlerweile ist der Wohnungsleerstand in einen Wohnungsmangel umgeschlagen. "Wir müssen in den nächsten Jahren 7000 bis 12.000 Wohnungen bauen", beschreibt von Kuick-Frenz die Herausforderung. Doch diese stößt auf ein entscheidendes Problem: Denn die Bundesregierung und das Land Brandenburg geben ihr Geld noch immer für den Wohnungsabriss statt für den Wohnungsneubau aus. Deshalb hat jedes Wohnungsneubauprojekt mit Finanzierungsschwierigkeiten zu kämpfen. Dennoch will Elke von Kuick- Frenz vor den Problemen nicht kapitulieren. "Wir haben keine andere Wahl, wir müssen neue Wohnungen bauen", erklärt sie.

Doch wie kann der Wohnungsbau verwirklicht werden? Zu dieser Frage gibt es in Potsdam ganz unterschiedliche Ansichten. Ein Konzept stammt von Klaus Theo Brenner, der als Professor für Architektur an der Fachhochschule Potsdam lehrt. Brenner hat zusammen mit seinen Professorenkollegen Bernd Albers und Ludger Brands eine Planung mit dem Titel "2020 Potsdam-Mitte" entwickelt. Das Kernstück des Vorhabens ist der Vorschlag, innerstädtische Grünflächen mit Wohnhäusern zu bebauen. Auf dem jetzigen Lustgarten ist ein "Neues Holländisches Viertel" aus backsteinernen Einfamilienhäusern vorgesehen, die zwischen 250.000 und 400.000 Euro kosten sollen. Auf einer Uferpromenade an der Havel sind die "Karl-Foerster-Terrassen" mit opulenten Eigentumswohnungen und das "Grandhotel Barbarini" geplant, während auf dem Staudenhof an der Nikolaikirche ein neues "Nikolaiviertel" entstehen soll.

Auch über die Umsetzung des Konzeptes hat sich Klaus Theo Brenner Gedanken gemacht. Da die meisten innerstädtischen Grünflächen schon jetzt der Stadt Potsdam oder einzelnen Wohnungsgenossenschaften gehören, müsste die Stadt nur noch ihren Verkauf an Bauherren organisieren. Investoren würden sich für diese Lagen sofort finden lassen. "Die Amerikaner, die Engländer und die Russen, die warten doch nur auf solche Kaufgelegenheiten", versichert er.

Dennoch stehen die Chancen derzeit schlecht, dass Brenners Konzepte umgesetzt werden. Auf Widerstand stoßen vor allem Brenners Pläne, für seine Neubauten auch innerstädtische Plattenbauten abzureißen, die zwar derzeit noch sehr gefragt sind, die Brenner aber nicht für zukunftsfähig hält. "Dort gibt es nur Zwei- und Dreizimmerwohnungen, die für die anspruchsvollen Zuzügler viel zu klein sind", erklärt er. Dennoch würden die Potsdamer Stadtpolitiker seine Pläne boykottieren. Brenner berichtet von einer einflussreichen Potsdamer "Plattenbaufraktion", die Plattenbauabrisse immer wieder blockiert, von der Verhinderungspolitik der Linkspartei, die die stärkste Fraktion im Potsdamer Stadtrat stellt, aber auch von der Mutlosigkeit der anderen Parteien, die sich eher um Wählerinteressen als um Visionen kümmern würden. Sein Resümee ist bitter: "Wir sind absolut renommierte Architekten, wir wollen der Stadt ein Geschenk machen, und die Stadt hört nicht auf uns." Dennoch hofft Brenner, dass sich eines Tages, unter veränderten politischen Verhältnissen, doch noch eine Chance für sein Konzept ergeben könnte.

Über Konzepte für den Wohnungsneubau denkt auch Ulf Hahn nach. Hahn ist Vorstandsvorsitzender der Wohnungsgenossenschaft "Karl Marx", der größten Wohnungsgenossenschaft in Potsdam. Ihr gehören nicht nur 6620 Wohnungen, sondern auch Teile jener Innenstadtflächen, die Brenner gern mit Stadthäusern bebauen würde. Wenn Hahn sein Credo beschreibt, dann sagt er: "Wir müssen auf die Bürger hören." Als Beleg erzählt er die Geschichte der Wohnhochhäuser an der Neustädter Havelbucht. Diese wurden von Experten als Problemimmobilien eingestuft und zum Abriss vorgeschlagen. Die betroffenen Bürger dagegen glaubten an die Zukunft ihrer Hochhäuser und wehrten sich gegen die Abrisspläne. Am Ende konnten sie eine Sanierung der Gebäude durchsetzen. Heute zeigt sich, dass die Bürger Recht hatten. In den Hochhäusern beträgt der Leerstand 0 Prozent, und lange Wartelisten mit Wohnungsinteressenten zeugen vom Erfolg dieser Wohnungen. Mittlerweile hat die Genossenschaft die Bürgerbeteiligung zur Regel gemacht. Die "Karl Marx" hat jährliche Planungswerkstätten eingeführt, auf denen die Bürger gemeinsam über die weitere Stadtentwicklung beraten. Im Konsens wurden Wohnungen saniert, Wohnungsgrundrisse verändert, Aufzüge angebaut und Energiesparmaßnahmen verwirklicht. Mit Erfolg: Die Leerstandsquote konnte von 5,5 Prozent im Jahr 2000 auf 1,5 Prozent im Jahr 2004 gesenkt werden. Ein weiterer Pluspunkt ist die gute soziale Mischung in den Genossenschaftshäusern, in denen der renommierte Wissenschaftler des Potsdamer Leibniz-Instituts neben dem Bauarbeiter oder dem Rentner wohnt.

Die guten Erfahrungen mit der Bürgerbeteiligung nutzt Hahn auch für die Neubauprojekte, die die Genossenschaft in den nächsten Jahren in Angriff nehmen will. Ausführlich wurde diskutiert, welche Flächen für Neubauten in Frage kommen, welche Wohnqualitäten gewünscht werden und welche Mietkosten akzeptabel wären. Am Ende entschied die Genossenschaft, die Wohngebiete "Waldstadt" und "Am Stern" zu erweitern. Eine ebenfalls denkbare Verdichtung der Innenstadt stieß dagegen auf Bedenken vieler Innenstadtbewohner und wurde nicht weiter verfolgt. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass die Miete auf keinen Fall mehr als sieben Euro pro Quadratmeter betragen soll. Denn Analysen hatten ergeben, dass bei teueren Wohnungen ein erheblicher Leerstand herrscht, während bezahlbare Wohnungen Mangelware sind.

Mittlerweile laufen die Vorbereitungsarbeiten für eine erste kleine Neubausiedlung mit rund 70 Wohnungen, in die 2008 die ersten Mieter einziehen sollen. Anschließend ist der Bau weiterer Wohnsiedlungen geplant. Allerdings werden diese Neubauten kaum ausreichen, um den Wohnungsmangel zu entschärfen. Deshalb fordert auch Hahn ein Umdenken der Baupolitiker des Landes und des Bundes. "Die Politik muss aufhören, immer nur den Abriss zu fördern", verlangt er. Ansonsten könnte das Potsdamer Wirtschaftswunder schon bald durch den Wohnungsmangel sein Ende finden.

Matthias Grünzig