Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Bauwelt 21/2006
Schlossberg oder Altstadt? (Quedlinburg)

Auf den ersten Blick erscheint Quedlinburg wie eine heile Welt. Die Stadt, in der 922 der Hof des deutschen Königs Heinrich I. gegründet wurde und die deshalb als erste deutsche Hauptstadt betrachtet werden kann, beeindruckt mit einer fast schon überbordenden Fülle an Baudenkmälern. Märchenhaft erscheint der 90 Hektar umfassende Innenstadtbereich, der den mit 1322 Gebäuden größten zusammenhängenden Bestand an Fachwerkhäusern in Deutschland bietet. Die Fachwerkhäuser prägen die Gassen der Altstadt, die im 10. bis 12. Jahrhundert entstanden ist und die bis heute ihre originale Struktur bewahren konnte. Rings um den Marktplatz breiten sich Straßenzüge aus Fachwerkhäusern aus, deren Entstehungszeit bis in das 14. Jahrhundert zurückreicht. Nicht weniger fachwerkreich ist die Neustadt aus dem 12. bis 14. Jahrhundert und der verschachtelte Stadtteil Münzenberg, der mit Fachwerkhäusern aus dem 17. und 18. Jahrhundert bebaut ist. Bekrönt wird die Stadt von dem Schlossberg, auf dem einst der Königshof Heinrichs I. seinen Sitz hatte und auf dem sich heute die romanische Stiftskirche St. Servatii mit dem Grab Heinrichs I. und das Stiftsschloss aus der Renaissancezeit erhebt. Angesichts dieses Reichtums war es schon fast selbstverständlich, dass Quedlinburg 1994 in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen wurde.

Auch in denkmalpflegerischer Hinsicht schien Quedlinburg lange Zeit eine heile Welt zu sein. Seit 1991 wurden rund 96 Millionen Euro an Fördermitteln in die Stadterneuerung investiert. Nicht nur Mittel der Programme "Städtebaulicher Denkmalschutz" und "Städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen", sondern auch Gelder der Deutschen Stiftung Denkmalschutz kamen der Quedlinburger Altstadt zugute. Dank dieser Mittel konnten 772 Fachwerkhäuser saniert werden. Quedlinburg schien auf dem Weg der Rettung zu sein.

Doch heute zeigt sich, dass diese Erfolgsmeldungen verfrüht waren. Denn seit einiger Zeit wird sichtbar, dass Quedlinburg abermals bedroht ist. Die Altstadtsanierung ist in der letzten Zeit ins Stocken geraten, schwindende Fördermittel stellen die Sanierungsbemühungen ganz in Frage. Stattdessen nehmen die Abrisse zu. Weitere Baudenkmäler sind vom Einsturz und von Brandstiftungen bedroht. Ein tragischer Höhepunkt der Brandstiftungen war das Jahresende 2004, als am Kornmarkt drei Häuser in Flammen aufgingen. Betroffen war ein Kaufmannshaus aus der Zeit um 1600, das Salfeldsche Palais von 1737 und ein weiteres Fachwerkhaus. Aber auch die sanierten Fachwerkhäuser sind keineswegs dauerhaft gesichert. Denn viele von ihnen sind dem Leerstand und somit dem neuerlichen Niedergang ausgeliefert. Weitere Probleme bereitet die 2003 festgestellte Gefährdung des Schlossberges, der einer aufwändigen Sanierung bedarf.

Die Ursachen für diese Krise der Stadterneuerung sind vielfältig. Ein Teil des Problems hat mit der wirtschaftlichen und demografischen Situation von Quedlinburg zu tun. Denn auch für Quedlinburg gilt, dass eine Stadt nicht um ihrer selbst willen existiert, sondern eine Existenzgrundlage braucht. Früher war diese Existenzgrundlage kein Problem. Über Jahrhunderte hatte die Stadt von der Landwirtschaft, dem Gartenbau und dem Handwerk gelebt. Später sorgten das Regelgerätewerk "VEB Mertik", das Küchengerätewerk "VEB Union", das Arzneimittelwerk "VEB Philopharm", das Reichsbahnausbesserungswerk und viele andere Unternehmen für Beschäftigung. Doch nach 1990 brach diese wirtschaftliche Basis zusammen. Die Betriebe wurden abgewickelt, von den 7000 Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe gingen 6800 verloren. Auch die Bemühungen der Quedlinburger um neue Unternehmensansiedlungen blieben nahezu erfolglos. Die Folge war ein Anstieg der Arbeitslosenquote, die offiziell bei 24 Prozent, nach Abrechnung diverser ABM- und Ein-Euro-Jobs aber bei 50 Prozent liegt. Gleichzeitig setzte eine Abwanderung in Richtung Westen, ein Rückgang der Einwohnerzahl von 29.000 auf derzeit 22.000 und ein Anstieg des Wohnungsleerstandes auf rund 22 Prozent ein. Unter diesen Bedingungen ist die Erhaltung einer Stadt generell ein Problem.

Der andere Teil des Problems besteht darin, dass gerade die Altstadt gegen Schrumpfungsprozesse besonders schlecht gewappnet ist. Diese Lage hat mehrere Gründe. Ein Grund sind die teilweise extrem hohen Sanierungskosten für die alten Gemäuer. Viele Fachwerkhäuser leiden unter vom Schwamm befallenen Holzkonstruktionen, morschen Deckenbalken und einsturzgefährdeten Kellern. Eine Sanierung dieser Gebäude erfordert nicht selten Kosten von 4000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. In den Wohnblöcken aus der DDR-Zeit, die sich in den Wohngebieten Süderstadt und Kleers konzentrieren, betragen die Sanierungskosten dagegen nur rund 400 Euro pro Quadratmeter. Die hohen Kosten für die Altbausanierung sind durch die wirtschaftsschwache Stadt kaum noch zu bewältigen.

Auch die Förderprogramme des Bundes können an dieser Misere nur wenig ändern. Denn sie alle müssen durch Gelder der Stadt kofinanziert werden, die Quedlinburg kaum aufbringen kann. Viele Jahre war in diese Lücke die Deutsche Stiftung Denkmalschutz eingesprungen. Sie hatte der Stadt Jahr für Jahr 1,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt und auf diese Weise auch Fördermittel des Bundes und des Landes gesichert. Doch im vorigen Jahr entschied die Stiftung, die Gelder für Quedlinburg auf 500.000 Euro im Jahr zu reduzieren. Als Konsequenz dieser Sparmaßnahmen ist die Summe der Fördermittel für die Altstadtsanierung von 4,5 Millionen Euro auf gut 2,5 Millionen Euro gesunken.

Eine weitere Verschärfung der Situation brachten die unerwarteten Ausgaben für die Stabilisierung des Schlossberges. 2003 wurde festgestellt, dass die Felsformationen, die das Stiftsschloss und die Stiftskirche tragen, stark geschädigt waren und einzustürzen drohten. Zwar gelang es zunächst, den Berg durch Sicherungsmaßnahmen zu stabilisieren. Doch für eine endgültige Sanierung des Schlossberges wird ein Betrag von rund 15 Millionen Euro benötigt, den die Stadt aus ihrem Etat für die Stadtsanierung entnehmen müsste. Die Konsequenz: Ohne zusätzliche Fördermittel würde die Schlossbergsanierung faktisch einen Stopp der Altstadtsanierung erzwingen.

Ebenso schwierig ist die Lage für die Quedlinburger Bürger, die sich privat für die Altstadtsanierung engagieren wollen. Sie scheitern regelmäßig an der spezifischen Struktur der deutschen Denkmalförderung. Denn diese fördert große Teile der Denkmalsanierungen über Steuerabschreibungen. Viele Quedlinburger aber sind arbeitslos, Geringverdiener oder Rentner und zahlen deshalb überhaupt keine Steuern. Von den Steuerabschreibungsmöglichkeiten können sie daher keinen Gebrauch machen. Von den Abschreibungsmöglichkeiten profitieren können dagegen auswärtige Bürger mit hohen Einkommen. Doch diese haben oft wenig Ahnung von Quedlinburg und seinen spezifischen Marktbedingungen und treten auch nicht als Selbstnutzer in Erscheinung. Die Folge ist eine Entfremdung zwischen den Quedlinburgern und ihrer Altstadt.

Allerdings gibt es noch einen zweiten Grund, der die Zukunft der Quedlinburger Altstadt bedroht. Denn auch nach einer Sanierung der Fachwerkhäuser sind noch längst nicht alle Probleme gelöst. Schließlich müssen sie auch bewirtschaftet, unterhalten und bewohnt werden. Und genau hier liegt das Problem. Denn auch sanierte Fachwerkhäuser erfordern Bewirtschaftungs- und Unterhaltungskosten, die deutlich höher als bei neueren Gebäuden sind. Die Probleme beginnen schon bei den höheren Kosten für die Instandhaltung. Die Erneuerung von Fenstern, Elektroleitungen, Wasser- und Abwasserrohren und Heizungsanlagen verlangt in Fachwerkhäusern oft nach individuellen Lösungen, die nicht nur teuer in der Erstellung, sondern auch kostenträchtig in der Unterhaltung sind. In Neubau- oder Plattenbaubeständen kann dagegen auf die preiswerteren Standardlösungen zurückgegriffen werden. Ebenso problematisch ist der hohe Energieverbrauch der Fachwerkhäuser, der nicht selten 200 Kilowattstunden pro Jahr pro Quadratmeter beträgt. In sanierten DDR-Wohnblöcken und Neubauten kann dieser Wert dagegen auf bis zu 40 Kilowattstunden pro Jahr pro Quadratmeter reduziert werden. Der dauerhafte Erhalt von Fachwerkhäusern würde deshalb höhere Mieten und Nebenkosten erfordern. Doch für hohe Kosten fehlt der wirtschaftsschwachen Stadt die Kaufkraft. Zudem bieten viele Fachwerkhäuser niedrige Raumhöhen, verwinkelte Grundrisse und verschattete Räume. Balkone sind hier ebenso Mangelware wie Pkw-Stellplätze und Grünflächen. Viele Quedlinburger sind nicht bereit, für diese Wohnbedingungen hohe Mieten zu zahlen.

Das Resultat all dieser Besonderheiten ist ein überdurchschnittlicher Leerstand in der Altstadt. Rund 200 Fachwerkhäuser stehen komplett leer, in anderen Gebäuden ist ein Teil der Wohnungen unbewohnt. Im Wohngebiet Süderstadt dagegen beträgt die Leerstandsquote lediglich rund 7 Prozent, im Wohngebiet Kleers liegt sie bei rund 10 Prozent. Aus der Perspektive der Wohnungswirtschaft lautet das Fazit: Die Altstadtbestände erwirtschaften Verluste, während die DDR-Siedlungen Gewinne erwirtschaften.

Dennoch führt Quedlinburg einen fast schon heroischen Kampf für die Rettung seiner Altstadt. In diesem und im letzten Jahr hat die Stadt mit Mühe und Not 50.000 Euro zusammengekratzt, um wenigstens einen Teil der Fördermittel kofinanzieren zu können. Weiterhin bemüht sich die Stadtverwaltung, leere Altstadthäuser durch die Ansiedlung von Behörden und Einrichtungen, wie das Deutsche Fachwerkzentrum, das Fachwerkmuseum und das Sanierungsbüro, zu beleben. Ebenso engagiert ist die kommunale Wohnungswirtschaftsgesellschaft, die nach wie vor Altstadthäuser saniert, obwohl schon jetzt viele sanierte Altstadtwohnungen leer stehen. Kontinuierlich nutzt sie ihre Gewinne aus den DDR-Siedlungen, um Fachwerkhäuser zu sanieren und zu unterhalten. Ein Beispiel ist ein 1780 errichtetes Fachwerkhaus in der Langen Gasse 7, das zwischen 2004 und 2006 aufwändig saniert wurde. Derzeit im Bau ist das Grünhagenhaus am Markt von 1701, das noch in diesem Jahr fertiggestellt werden soll.

Gleichzeitig versucht die Stadt, die Altstadt durch Abrisse in den Gründerzeitquartieren zu schützen. Ein Beispiel sind Mietshäuser an der Halberstädter Straße, die 1909 nach Entwürfen des halleschen Büros Knoch und Kallmeyer errichtet wurden und heute zu 100 Prozent leer stehen. Diese Gebäude stehen zwar auch unter Denkmalschutz, allerdings gehören sie nicht zum Welterbebereich und sind daher eher verzichtbar als Altstadthäuser. Deshalb wird noch in diesem Jahr der Abriss der 183 Wohnungen beginnen. Ebenfalls zur Disposition stehen 109 Wohnungen aus der Zeit zwischen 1850 und 1900 an der Stresemannstraße, die zur Zeit einen Leerstand von 89 Prozent aufweisen. Weitere Abrisse sind am Rambergweg geplant.

Doch auch diese Strategie hat ihre Grenzen. Größere Abrisse in den DDR-Siedlungen sind beispielsweise völlig ausgeschlossen. Einerseits erwirtschaften diese Gebiete jene Gewinne, die für die Altstadtsanierung dringend gebraucht werden. Andererseits gibt es das Problem, dass die DDR-Wohngebiete völlig andere Wohnbedingungen als die altstädtischen Fachwerkbauten anbieten und daher auch ganz andere Zielgruppen ansprechen. Deshalb erscheint es fraglich, dass sich die Bewohner der DDR-Siedlungen so einfach in die Altstadt umsetzen lassen. Die Erfahrungen anderer Städte mit derartigen Umsiedlungsversuchen sind jedenfalls ernüchternd. Beispielsweise hat Görlitz versucht, den Leerstand in der Altstadt durch Abrisse im Plattenbauquartier Königshufen zu bekämpfen. Doch am Ende zogen nur gut ein Prozent der Abrissmieter in die Altstadt. Dagegen besteht die Gefahr, dass die Bürger den Abriss ihrer Häuser zum Anlass nehmen, ihre Stadt ganz zu verlassen. Für die Entwicklung der Finanzzuweisungen für Quedlinburg, die an die Einwohnerzahl gekoppelt sind, und der Pro-Kopf-Verschuldung wäre diese Entwicklung eine Katastrophe. Zudem gibt es noch weitere finanzielle Risiken derartiger Umsiedlungskonzepte. Denn eine Umsiedlung von Bürgern aus den Nachkriegssiedlungen in die Altstadt würde nicht nur höhere Wohnkosten für die Bürger, sondern auch höhere öffentliche Ausgaben für Wohngeld, Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe nach sich ziehen. Der Verzicht auf den DDR-Wohnungsbestand wäre also der sichere Weg in den städtischen Bankrott. Aus diesen Gründen gab es bisher keinerlei Abrisse in den DDR-Siedlungen Süderstadt und Kleers. Stattdessen wird hier die Sanierung auch in Zukunft weitergehen.

Doch trotz aller Bemühungen ist es nicht gelungen, die Schrumpfung von der Altstadt fernzuhalten. Bereits erfolgt sind die Abrisse in der Wassertorstraße, in der Schmalen Straße, in der Pölle, in der Wipertistraße, in der Wordgasse, auf dem Münzenberg und in der Langen Gasse. Weitere Abrisse zeichnen sich ab, weil eine schrumpfende Stadt besonders machtlos gegenüber den Forderungen der Investoren ist. Ein Beispiel ist ein ehemaliges Logengebäude von 1830 an der Heiligengeiststraße. Aufgrund der wachsenden Zahl an Pflegebedürftigen beschloss das Deutsche Rote Kreuz, in Quedlinburg ein Altenpflegeheim einzurichten. Die Stadtverwaltung bemühte sich daraufhin intensiv, den Investor für leer stehende Gebäude in der Altstadt zu interessieren. Doch das Deutsche Rote Kreuz war nicht bereit, die höheren Bau- und Bewirtschaftungskosten für einen sanierten Altbau zu übernehmen. Stattdessen favorisierte es einen Neubau auf dem Standort des leer stehenden Logengebäudes in der Heiligengeiststraße. Für die Stadtverwaltung entstand eine schwierige Situation. Sollte sie sich für den Erhalt des Baudenkmals oder für ein dringend benötigtes Altenpflegeheim entscheiden, das zudem noch Arbeitsplätze versprach? Die Entscheidung fiel schließlich für das Altenpflegeheim und somit auch für den Abriss des alten Logengebäudes. Und auch an anderen Altstadtstandorten stehen Gebäude zur Disposition. Eine Erhaltung der geschlossenen Altstadtbebauung halten die Quedlinburger Stadtplaner mittlerweile für unrealistisch. Stattdessen gehen sie davon aus, dass auch die Altstadt zunehmend von Baulücken geprägt sein wird.

Die Denkmalpfleger können in dieser Lage wenig helfen, weil auch sie auf die Schrumpfung kaum eingestellt sind. Sie fordern zwar den Erhalt der Baudenkmäler, wissen aber auch keine Antwort auf die Frage, wie Quedlinburg der Schrumpfungsfalle entkommen könnte. Stattdessen kritisieren sie die Quedlinburger Stadtverwaltung, obwohl diese für die Schrumpfung am wenigsten kann. Die sachsen-anhaltinische Landeskonservatorin Ulrike Wendland bezeichnete Quedlinburg in einem Leserbrief gar als "beratungsresistente Stadt", die "überaus fahrlässig" mit ihrer historischen Substanz umgehen würde. Die Folge ist eine wachsende Zerrüttung im Verhältnis zwischen den Vertretern der Stadt und den Denkmalbehörden, die die Stadterhaltung nicht gerade erleichtert.

Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Laut einer Bevölkerungsprognose wird sich die Bevölkerung Quedlinburgs bis 2020 im ungünstigsten Fall auf 11.000 Einwohner verringern. Weitere Einschnitte wird die für 2007 geplante Kreisreform bringen. In deren Folge wird Quedlinburg nicht nur seinen Status als Kreisstadt, sondern auch 700 bis 1000 Arbeitsplätze verlieren. Zu alledem wird Quedlinburg nicht nur kleiner, sondern auch älter und ärmer werden. Parallel zum Bevölkerungsrückgang wird sich der Anteil der über 60-Jährigen von derzeit 29 Prozent auf 40 Prozent im Jahr 2020 und 56 Prozent im Jahr 2030 erhöhen. Zugleich wird die Kaufkraft der künftigen Rentner niedriger sein als heute. Denn zur Zeit leben in der Stadt noch viele Rentner, die dank einer langen Erwerbsbiografie während der DDR-Zeit über relativ hohe Renten verfügen. In Zukunft aber werden in Quedlinburg immer mehr Rentner leben, die aufgrund von Arbeitslosigkeit, ABM-Stellen und Ein-Euro-Jobs nur über sehr niedrige Renten verfügen werden. Der Quedlinburger Wohnungsmarkt der Zukunft wird deshalb vor allem durch einkommensschwache Senioren bestimmt werden. Die Konsequenz: Die Nachfrage nach kostenträchtigen Altstadtwohnungen wird sinken, während die Nachfrage nach den kostengünstigen DDR-Wohnungsbeständen stabil bleiben dürfte. Diese Entwicklungen wirken wie eine Abwärtsspirale, die die Entleerung der Altstadt vorantreibt. Was diese Veränderungen für den wertvollen Fachwerkbestand bedeuten, ist kaum vorstellbar. Die Aussicht, dass die Altstadt immer mehr zu einer Geisterstadt verkommt, ist jedenfalls von einem beängstigenden Realitätsgehalt.

Ist die wertvolle Quedlinburger Altstadt also dem Untergang geweiht? Ist Quedlinburg gar eine sterbende Stadt? Diese Fragen sind deshalb so brisant, weil Quedlinburg kein Einzelfall ist. Diese Fragen stellen sich ebenso in anderen ostdeutschen Welterbestätten wie in Stralsund, Wismar, Eisleben, Dessau und Wittenberg, aber auch in bauhistorischen Kostbarkeiten wie Weißenfels, Altenburg, Bernburg, Görlitz und Zittau. Hinter dem Schicksal von Quedlinburg steht also ganz allgemein die Frage nach dem Umgang mit schrumpfenden Städten. Soll man die Schrumpfung als einen unvermeidlichen Prozess betrachten und damit auch den Niedergang der wertvollen Altstädte in Kauf nehmen? Oder entschließt man sich zu einer Politik, die der Schrumpfung Paroli bietet, die den ausgezehrten Städten in Ostdeutschland eine neue Blutzufuhr in Form von Geld, von Wirtschaftskraft und von Einwohnern beschert? Gibt es den politischen Willen, nochmals beträchtliche Summen in die Wirtschaftsförderung, in Bildungseinrichtungen und Forschungsstätten zu investieren, damit Zuzügler nach Quedlinburg kommen und auch die einheimische Bevölkerung eine Existenzgrundlage erhält? Diese Fragen sind unbequem, zumal in Zeiten knapper Kassen. Aber ihre Beantwortung wird über das Schicksal Quedlinburgs entscheiden.

Matthias Grünzig