Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Vortrag auf der Tagung Linksreformismus am 5.2.2011 in Berlin
Großsiedlungen - eine Chance für eine sozial-ökologische Stadtpolitik

A. Neue Herausforderungen

Die Stadtentwicklung in Deutschland steht vor neuen Herausforderungen. Der Klimawandel und die wachsenden ökologischen Probleme erfordern den Umbau hin zu einer umweltfreundlichen und energieeffizienten Stadt. Die sozialen Probleme verlangen eine Stadt, die der sozialen Spaltung vorbeugt. Der demografische Wandel, vor allem die zunehmende Zahl an Senioren, erfordert Strategien für eine altersgerechte Stadt. Die Zuwanderung wiederum verlangt eine Stadt, die die Integration von Zuwanderern leisten kann. All diese Herausforderungen erfordern einen nachhaltigen Umbau der Städte. Gefragt sind Stadtumbaukonzepte, die sowohl realistisch als auch finanzierbar sind. Eine Antwort auf diese Herausforderungen kann die Sanierung und der Umbau von Großsiedlungen sein.

Großsiedlungen galten noch vor wenigen Jahren als Auslaufmodelle. Experten bemängelten die funktionale Struktur der Großsiedlungen, die den Anforderungen einer hochflexiblen, postfordistischen Ökonomie widersprechen würde. Kritisiert wurde der egalitäre Charakter der Siedlungen, die im Widerspruch zu einer zunehmend individualisierten Gesellschaft stehen würde. Und zu alledem wurde den Großsiedlungen ein Mangel an Urbanität vorgeworfen. Beklagt wurde das Fehlen von urbanen Straßen- und Platzräumen, die aufgrund des wachsenden Bedarfs an Vielfalt, Erlebnissen unverzichtbar wären. Kurz: Die Großsiedlungen wurden als Dinosaurier einer vergangenen Epoche betrachtet.

Dieses Urteile spiegelten sich nicht nur in negativen Mediendarstellungen, sondern auch in der konkreten Politik wider. 2001 beschloss die Bundesregierung das Programm "Stadtumbau Ost", durch das zum ersten Mal in der deutschen Geschichte nicht den Neubau, sondern den Abriss von Wohnungen subventioniert wurde. Im Zusammenhang mit dem Programm "Stadtumbau Ost" entwickelten zahlreiche ostdeutsche Kommunen Stadtentwicklungskonzepte, in denen der Abriss von Großsiedlungen festgeschrieben wurde. Die Großsiedlungen, so war die Erwartung, würden allmählich verschwinden. Angesichts dieser Entwicklung titelte eine große deutsche Tageszeitung: "Die sozialistische Großsiedlung ist tot".[1] Und ein Hamburger Nachrichtenmagazin ergänzte: "Da hilft nur noch Dynamit".[2]

Doch in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die totgesagten Großsiedlungen eine erstaunliche Lebendigkeit entwickelten. Viele Siedlungen, wie Berlin-Lichtenberg, Berlin-Marzahn, Potsdam-Schlaatz oder Jena-Lobeda, verzeichnen im Gegensatz zu allen Prognosen steigende Zuzugszahlen. In Jena wurde der Wohnungsabriss deshalb schon 2005 beendet, Berlin stellte die Wohnungsabrisse 2008 ein. Potsdam verzichtete von vornherein auf Abrisse und konzentrierte sich stattdessen auf die Sanierung seiner Großsiedlungen.

Diese Entwicklungen sind kein Zufall. Sie haben vielmehr mit einer ganzen Reihe von Qualitäten zu tun, die unter den Bedingungen eines sozial - ökologischer Stadtumbaus an Bedeutung gewinnen.

B. Die Großsiedlungen und ihre Vorzüge

Worin bestehen nun die Potenziale der Großsiedlungen?

Erstens: die günstigen Sanierungs- und Unterhaltungskosten

Großsiedlungen bestehen fast ausschließlich aus industriell errichteten Gebäuden, die in der Regel eine sehr solide Bausubstanz aufweisen. Zudem sind diese Gebäude in hohem Maße standardisiert. Der Vorteil ist: Bei einer Sanierung können Fenster, Türen, Balkone, Rohre oder auch Wärmeverbundsysteme in großer Zahl und damit sehr kostengünstig eingekauft werden. Die Folge sind niedrige Sanierungs- und Instandhaltungskosten. Einfache Teilsanierungen sind schon für 200 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche durchführbar, aufwändigere Sanierungen mit dem Anbau von Wärmedämmfassaden und Grundrissänderungen sind schon für 400 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche realisierbar. Die Sanierung von Altbauten dagegen kostet häufig 1000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche und mehr.

Dank dieser Kostenvorteile bieten Plattenbauwohnungen oft gute Wohnqualitäten zu günstigen Mieten. Dieser Vorzug ist wichtig für die wachsende Zahl von Geringverdienern und einkommensschwachen Rentnern. Zudem sind Plattenbauwohnungen auch für Zuwanderer interessant, die oft auf preiswerte Wohnungen angewiesen sind.

Zweitens: die Flexibilität der Bausubstanz

Plattenbauten eröffnen aber auch Chancen für anspruchsvollere Wohnformen. Viele Plattenbauten bieten zwar undifferenzierte Wohnungsgrundrisse, aber sie bieten auch eine große Flexibilität bei der Grundrissgestaltung. Denn Plattenbauten sind aus Grundmodulen zusammengesetzt, die im Fall des am häufigsten gebauten Typs WBS 70 sechs Meter breit und zwölf Meter tief sind. Innerhalb dieser Module können Wände nach Belieben verschoben oder ganz entfernt werden. Aber auch tragende Wände können nach dem Einsatz von Stahlträgern beseitigt oder mit Öffnungen versehen werden. Auf diese Weise können differenzierte Wohnungen mit den unterschiedlichsten Grundrissen geschaffen werden. Einige Wohnungsunternehmen bieten sogar "Wohnungen nach Maß" an, deren Grundrisse die Mieter selbst festlegen können.

Problemlos möglich ist auch der Teilrückbau von Wohnblöcken. Einige Wohnungsunternehmen begnügten sich damit, die Wohnblöcke auf drei oder vier Geschosse zu verkleinern und die schwer vermietbaren Wohnungen in den oberen Geschossen zu beseitigen. Andere Unternehmen verwirklichten dagegen einen teilweisen Rückbau der oberen Etagen zu Penthäusern und großzügigen Dachterrassen, die häufig eine Alternative zum Einfamilienhaus bieten. Derartige Terrassenhäuser wurden beispielsweise in Berlin - Marzahn, in Schwerin - Neu Zippendorf oder in Magdeburg - Neu Reform geschaffen.

Einige Wohnungsunternehmen gingen sogar noch weiter und bauten Plattenbaublöcke in Stadtvillen oder Reihenhäuser um. Beispiele dieser Art wurden in Leinefelde - Südstadt, Lübbenau - Neustadt oder Halle - Wörmlitz verwirklicht.

Ein zusätzlichen Beitrag zur Individualisierung des Wohnungsbestandes leisten leer stehende Kindertagesstätten und Schulen, die in zunehmender Zahl zu Wohnhäusern umgebaut werden. In Berlin - Lichtenberg wurde eine Kindertagesstätte von einer Bauherrengemeinschaft erworben und zu einem generationenübergreifenden Wohnhaus umgebaut. Eine weitere Kindertagesstätte in Berlin - Lichtenberg wurde zu einer Eigentumswohnanlage umgebaut und binnen kurzer Zeit vermarktet. Ähnliche Umbauten erfuhren Schulgebäude in Strausberg und Berlin - Lichtenberg.

In einigen Fällen erwiesen sich die Umbauten der Plattenbauten als zu teuer. In diesen Fällen wurden Wohnblöcke mit Ausnahme der Kellergeschosse abgerissen und auf den Kellergeschossen neue Wohnhäuser errichtet. Derartige Neubauten wurden in Magdeburg - Neustädter Feld errichtet.

Dank dieser Flexibilität ist es auch in Großsiedlungen möglich, eine große Vielfalt an Wohnungen und Gebäudetypologien zu schaffen, durch die wiederum eine gute soziale Mischung möglich wird.

Drittens: Die Möglichkeiten der energetischen Gebäudesanierung

Dieser Vorteil hängt mit der Tatsache zusammen, dass Plattenbauten in der Regel nicht unter Denkmalschutz stehen. Folgerichtig gibt es hier viel mehr Möglichkeiten für einen ökologischen Umbau als bei Altbauten. Beispielsweise ist es problemlos möglich, Plattenbauten mit effektiven Vollwärmeschutzsystemen zu verkleiden, die gute Dämmwerte bieten. Diese Maßnahmen sind schon zu niedrigen Kosten von 200 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche realisierbar.

Ebenso problemlos ist es, die Dächer von Plattenbauten mit Solaranlagen auszustatten. Ein Beispiel für diese Solarnutzung ist die Südstadt von Neuruppin, wo die städtische Neuruppiner Wohnungsgesellschaft mbH (NWG) fast alle Dächer mit Solarzellen bestückt hat. Ähnliche Projekte wurden in Rostock - Schmarl und Greifswald - Schönwalde verwirklicht. Weitere Varianten der Solarenergienutzung sind der Anbau von Solarzellen an die Fassade und der Einbau von Sonnenkollektoren in die Balkonbrüstungen von Plattenbauten. Diese Variante hat die kommunale Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB) in einen Plattenbau in der Leipziger Marchwitzastraße realisiert.

Die Folgen dieser Umbauten sind niedrige Heizenergieverbräuche und günstige Kosten. Das schon erwähnte Niedrigenergiehaus in der Marchwitzastraße in Leipzig kommt mit einem Energieverbrauch von 45 kwh/m2/a aus. Das größte Niedrigenergiehaus Deutschlands, ein Plattenbau in der Berliner Schultze-Boysen-Straße mit 296 Wohnungen, verbraucht ebenfalls nur 45 kwh/m2/a, ein Plattenbau in der Talliner Straße in Schwerin kommt gar mit 39 kwh/m2/a aus, ein Wohnblock in der Walter-Friedrich-Straße in Berlin verbraucht ebenfalls nur 39 kwh/m2/a. Im Vergleich: Selbst sanierte Altbauten erfordern oft Heizenergieverbräuche von 100 bis 200 kwh/m2/a. Auch deshalb warnte das "Institut für ökologische Raumentwicklung" (IÖR) in Dresden in einer Stellungnahme aus dem Jahr 2008, dass sich Altbauten zu einer "Erblast für kommende Generationen" entwickeln könnten.[3]

Lohnend ist zudem ein Blick auf die Sanierungskosten. Energetische Sanierungen von Plattenbauten können schon zu Kosten von 400 bis 500 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche realisiert werden. Die Sanierung des Niedrigenergiehauses in der Berliner Schulze-Boysen-Straße kostete 440 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. Energetische Sanierungen von Altbauten sind dagegen deutlich teurer und weniger effizient. Die Sanierungskosten betragen hier 1000 und 2000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche, in Extremfällen reichen sie sogar bis zu 4000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. Nicht zuletzt deshalb kommt eine Untersuchung des "Instituts für Wirtschaftsforschung Halle" (IWH) zum Ergebnis, dass eine energetische Sanierung von Wohnhäusern aus der Zeit von 1950 - 1980 sehr viel effizienter als von Altbauten aus der Zeit von vor 1919 ist.[4]

Viertens: Viele Großsiedlungen bieten gute Bedingungen für das wachsende Segment des altersgerechten Wohnens

Vor allem die höheren Gebäude verfügen über einen Aufzug, der das Treppensteigen erspart. Aber auch Wohnblöcke ohne Aufzug lassen sich oft mit geringem Aufwand mit einem Aufzug nachrüsten. Dieser Punkt ist ein deutlicher Vorteil gegenüber vielen Altbauten, wo häufig schon der Einbau eines Aufzugs an denkmalrechtlichen Bestimmungen scheitert.

Die meisten Plattenbauwohnungen lassen sich mit geringem Aufwand barrierearm oder gar barrierefrei gestalten. Ein Großteil dieser Wohnungen besitzt zudem einen Balkon, der gerade von weniger mobilen Bürgern geschätzt wird. Zudem ermöglichen gerade die größeren Wohngebäude, wie elfgeschossige Wohnscheiben oder Wohnhochhäuser, eine günstige Einordnung von Serviceangeboten. Mittlerweile gibt es altersgerechte Wohnanlagen, die nicht nur Wohnungen, sondern im gleichen Haus auch Gemeinschaftsräume, Pflegestützpunkte, Arztpraxen, Physiotherapiepraxen, Frisiersalons oder andere Dienstleistungen bieten. Beispiele dieser Art wurde beispielsweise an der Walter-Friedrich-Straße in Berlin - Buch verwirklicht. Diese Wohnformen bieten gute Bedingungen, um einer Vereinsamung im Alter entgegen zu wirken.

Fünftens: der sparsame Landschaftsverbrauch

Fast alle Großsiedlungen sind kompakte, klar begrenzte Strukturen, die sich durch eine relativ hohe Einwohnerdichte und einen geringen Flächenverbrauch auszeichnen. Durchschnittlich werden Einwohnerdichten zwischen 200 und 300 Einwohner pro Hektar erreicht. Berlin - Marzahn erreichte eine Dichte von 260 Einwohner pro Hektar, in Dresden - Prohlis betrug dieser Wert 280 Einwohner pro Hektar, in Erfurt - Nordhäuser Straße wurden 350, in Frankfurt/Oder - Neuberesinchen wurden 224 Einwohner pro Hektar erreicht. Diese Einwohnerdichten ermöglichen einen sparsamen Landschaftsverbrauch.

Sechstens: Großsiedlungen sind Siedlungen der kurzen Wege

Großsiedlungen waren und sind Teile ganzheitlich geplanter, hochkomplexer Stadtstrukturen, die nicht nur Wohnen, sondern auch Arbeiten, Erholung und Kultur umfassen. Deshalb zeichnen sich viele Großsiedlungen durch eine stadtstrukturell günstige Lage mit kurzen Entfernungen zu Arbeitsstätten und Erholungsgebieten aus, die zudem auf umweltfreundliche Weise durch schienengebundene Nahverkehrsverbindungen erreicht werden können. Mehrere Siedlungen, wie Erfurt - Südost, Jena - Lobeda, befinden sich in unmittelbarer Nähe zu Gewerbegebieten mit zahlreichen Arbeitsplätzen. Die Großsiedlungen Berlin - Lichtenberg und Berlin - Marzahn grenzen an das größte Berliner Industriegebiet Lichtenberg -Nordost.

Dieses Gewerbegebiet bietet übrigens auch Raum für unkonventionelle Nutzungen. Ein bekanntes Beispiel ist das ORWO-Haus, in denen Bands proben können. Ehemalige Bürohäuser in der Herzbergstraße und in der Buchberger Straße werden ebenfalls von Bands genutzt. Eine weitere unkonventionelle Nutzung ist die Umnutzung des ehemaligen Industriegeländes des VEB Elektrokohle in Berlin - Lichtenberg zum vietnamesischen Geschäftszentrum Dong Xuan Center. Hier hat sich ein dichtes Angebot an vietnamesischen Geschäften, Restaurants und Dienstleistungsangeboten etabliert.

Andere Siedlungen, wie Jena - Lobeda, Greifswald - Ostseeviertel, Greifswald - Schönwalde, Rostock - Südstadt, liegen in unmittelbarer Nähe zu Universitätskomplexen. In noch anderen Fällen, wie Neubrandenburg - Oststadt, Schwerin - Lankow oder Nordhausen Nord, liegen Großsiedlungen in unmittelbarer Nähe großer Krankenhäuser. Diese Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten sorgt für kurze Wege und eine Verringerung des Verkehrs.

Siebentens: Großsiedlungen sind fußgängerfreundliche Siedlungen

Viele Siedlungen verfügen über verkehrsfreie Fußgängerwege, die fast ohne Querung des Autoverkehrs die Wohngebiete durchziehen und an denen alle wichtigen Einrichtungen, wie Schulen, Kindergärten, Kaufhallen und Ärztehäuser, angeordnet sind. Der Autoverkehr wird dagegen auf ein Mindestmaß reduziert. Der Durchgangsverkehr wird in der Regel auf Hauptstraßen an den Siedlungsrändern verbannt. Die Wohngebietserschließung erfolgt durch ruhige Wohnstraßen, die in Form von Stichstraßen oder Schleifen in das Wohngebiet hineinführen und die schon durch ihre Führung einen Durchgangsverkehr ausschließen.

Dieses Verkehrskonzept bietet mehrere Vorteile: Einerseits gibt es in Großsiedlungen gefahrlose Fußgängerbereiche, die gerade für Kinder und ältere Bürger von Vorteil sind. Andererseits sorgt diese Verkehrsstruktur für eine geringe Belastung der Wohnungen mit Abgasen und Lärm.

Achtens: die umweltfreundliche Infrastruktur

Ein Großteil der Großsiedlungen verfügen über eine umweltfreundliche Infrastruktur. Fast alle dieser Siedlungen sind durch Fernwärmenetze erschlossen, die eine Nutzung der ökologisch sinnvollen Kraft-Wärme- Kopplung ermöglichen. Diese Vorzüge schlagen sich auch in den Heizkosten nieder. Großsiedlungen bieten oft günstigere Heizkosten als Altbauquartiere, die mit dezentralen Heizungssystemen beheizt werden.

Geradezu vorbildlich ist in vielen Großsiedlungen die Anbindung an den schienengebundenen Nahverkehr. Etliche Siedlungen, wie Berlin - Marzahn, Gera - Lusan, Halle - Silberhöhe, Dresden - Gorbitz, werden durch Straßenbahnlinien erschlossen, die die Siedlungen mittig durchqueren. Diese Linien verkehren in der Regel auf eigenen Bahnkörpern und bieten deshalb beste Bedingungen für einen schnellen und wirtschaftlichen Straßenbahnverkehr. Andere Siedlungen, wie Berlin - Marzahn, Berlin - Hellersdorf oder Leipzig - Grünau, werden zusätzlich durch zentral geführte S- oder U-Bahnlinien erschlossen. Die Bewohner dieser Siedlungen müssen oft nur wenige Minuten bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle oder zum nächsten Bahnhof laufen und können deshalb auf ein Auto verzichten.

Neuntens: das gute Versorgungsangebot

Fast alle Großsiedlungen bieten eine gute Ausstattung mit Schulen, Kindergärten, Ärztehäusern, Kinos, Schwimmhallen oder Einkaufszentren. In einigen Großsiedlungen, wie Berlin-Marzahn, gibt es sogar Kulturzentren. Zugleich gibt es in zahlreichen Großsiedlungen trotz der hohen Einwohnerdichte eine bemerkenswert großzügige Ausstattung mit Grünflächen, Spielplätzen und Sportplätzen. Etliche Siedlungen sind durch großzügige öffentliche Räume geprägt, die Chancen für vielfältige Nutzungen eröffnen. Die soziale Integration wird durch diese Räume gefördert.

Zehntens: die Eigentumsverhältnisse

Es gibt aber noch einen großen Vorteil der Großsiedlungen, der in der aktuellen Debatte kaum auftaucht. Denn in diesen Siedlungen befinden sich über 85 Prozent der Wohngebäude im Eigentum von kommunalen Wohnungsgesellschaften und Wohnungsgenossenschaften.[5]

Diese Eigentümerstruktur ist ein riesiger Vorteil. Denn kommunale und genossenschaftliche Eigentümer lassen sich viel eher auf gesamtgesellschaftliche Ziele festlegen als Privateigentümer, die vor allem an der Rendite interessiert sind. Deshalb treten gerade kommunale Wohnungsgesellschaften und Genossenschaften als Vorreiter bei ökologischen Umbauprojekten auf.

Ebenso wichtig ist ihre soziale Funktion. Während renditeorientierte Investoren in der Regel in privilegierten Stadtteilen Luxussanierungen vornehmen und die Häuser in weniger privilegierten Stadtteilen verkommen lassen, sind kommunale und genossenschaftliche Eigentümer eher zu einer sozialen Stadtpolitik bereit. Viele dieser Eigentümer haben aufwendige Umbaumaßnahmen in unterprivilegierten Stadtteilen durchgeführt, die aus betriebswirtschaftlicher Sicht vielleicht unrentabel, aus stadtpolitischer Sicht aber sinnvoll waren, weil sie einen Beitrag gegen Segregationstendenzen leisteten. Beispiele sind die Wohnanlage "Ahornhof" der kommunalen Wohnungsgesellschaft WIRO in Rostock - Groß Klein, die Terrassenhäuser der Wohnungsbaugenossenschaft "Kontakt" an der Uranusstraße in Leipzig - Grünau oder die Wohnanlage "Ahrensfelder Terrassen" der kommunalen Wohnungsgesellschaft DEGEWO in Berlin - Marzahn.

Flankiert wird die sozial orientierte Stadtpolitik durch soziale Angebote. Viele kommunale und genossenschaftliche Wohnungsunternehmen betreiben Begegnungsstätten, Jugendfreizeitzentren, Seniorenzentren, in denen Kurse, Vorträge sowie Beratungen zu Rechts- und Rentenfragen angeboten werden. Einige Wohnungsunternehmen bewirtschaften sogar Schwimmhallen und Kindergärten, andere beteiligen sich finanziell an der Sanierung von Schulen und Kindertagesstätten oder bauen eigene Stadtteilparks.

Schließlich ermöglicht ein großer Anteil kommunaler und genossenschaftlicher Unternehmen eine ganzheitliche Stadtentwicklungspolitik, die mit den zersplitterten Eigentümerstrukturen vieler Altbauquartiere kaum umsetzbar ist. Die Chancen dieses Vorgehens illustriert der Umbau des Ostseeviertels in Greifswald. Diese Plattenbausiedlung wurde zwischen 1981 und 1986 errichtet und geriet nach 1990 in eine Krise. Die Greifswalder Stadtverwaltung reagierte auf diese Krise mit einer breiten Debatte über die Zukunft dieses Stadtteils. Es begann ein Dialog zwischen der Stadtverwaltung, der städtischen Wohnungsbau- und Verwaltungsgesellschaft Greifswald (WVB), der Wohnungsbau-Genossenschaft Greifswald (WGG) und den Bürgern, an dessen Ende ein einmütig beschlossener Rahmenplan für das Ostseeviertel stand. In der Zeit zwischen 2004 und 2010 wurde dieser Rahmenplan schließlich durch die Stadtverwaltung und die beiden Wohnungsunternehmen umgesetzt. Plattenbauten wurden zu Terrassenhäusern, altersgerechten Wohnhäusern, Niedrigenergiehäusern oder ganz normalen Wohnhäusern umgebaut. Heute ist das Ostseeviertel ein beliebtes Wohnviertel, in dem die unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten wohnen und in dem es keinen Wohnungsleerstand gibt.

Greifswald ist nicht das einzige Beispiel dieser Art. In der sächsischen Kleinstadt Stollberg oder im thüringischen Leinefelde können ähnliche Beispiele besichtigt werden. In Altbauquartieren dagegen sind ganzheitliche Umbaukonzepte oft an den zersplitterten Eigentümerstrukturen gescheitert. Ein Beispiel ist der 2002 beschlossene "Konzeptionelle Stadtteilplan Leipziger Osten". Dieses Konzept, das eine Aufwertung eines dicht bebauten gründerzeitlichen Arbeiterquartiers durch neue Grünzüge vorsah, konnte aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft vieler Privateigentümer nur rudimentär verwirklicht werden.

Diese Beispiele vermitteln einen Eindruck davon, welche Potenziale die Großsiedlungen bieten. Es gibt also Chancen für einen sozialen und ökologischen Stadtumbau.

C. Konfliktfeld Großsiedlung

1. Problematische Entwicklungen

Wie sehen nun die politischen Rahmenbedingungen für eine Weiterentwicklung der Großsiedlungen aus? Insgesamt besteht auf diesem Gebiet ein erheblicher Handlungsbedarf. Zwar gibt es auch positive Ansätze, wie das CO2-Gebäudesanierungsprogramm des Bundes, das die energetische Sanierung auch in Großsiedlungen fördert. 2009 veranstaltete das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sogar einen Wettbewerb für die energetische Sanierung von Großwohnsiedlungen. Zudem gibt es verschiedene Wohnungsbauförderprogramme der Länder, beispielsweise für einen altersgerechten Umbau von Wohnhäusern, die ebenfalls zu einer Aufwertung von Großsiedlungen beitragen.

Dennoch gibt es zwei sehr problematische Entwicklungen, die sich gegenseitig verstärken. Die erste Entwicklung ist die Privatisierung der Wohnungsbestände, und die zweite Entwicklung ist die politische Benachteiligung der Großsiedlungen.

2. Die Privatisierung der Wohnungsbestände

Nach der deutschen Einheit 1990 befanden sich zunächst sämtliche Wohnungen der ostdeutschen Großsiedlungen im Eigentum der kommunalen Wohnungsgesellschaften oder der Wohnungsgenossenschaften. Diese Situation wurde in den Folgejahren grundsätzlich verändert.

Den Auftakt machte das 1993 von der Bundesregierung beschlossene Altschuldenhilfegesetz, das die kommunalen Wohnungsgesellschaften und die Wohnungsgenossenschaften zur Privatisierung von 15 Prozent ihrer Bestände verpflichtete. Einen zusätzlichen Schub erfuhren die Privatisierungen durch die kommunale Finanznot, die viele Städte zum Verkauf weiterer Wohnungsbestände motivierte. Überregional bekannt geworden ist der Verkauf der kommunalen Wohnungsgesellschaft WOBA durch die Stadt Dresden 2006.

Die Folgen der Privatisierung sind überwiegend problematisch. Zwar gab es auch Privateigentümer, die sinnvolle Sanierungen durchführten. Viele Privateigentümer setzten allerdings auf eine Billigsanierung, die häufig unprofessionell ausgeführt wurden. Nicht wenige Privateigentümer ließen ihre Bestände völlig vergammeln, in einigen Fällen leiteten Eigentümer nicht einmal mehr die Heizkostenvorauszahlungen an die Fernwärmeversorger weiter, mit der Folge, dass den Mietern die Heizung abgedreht wurde. Für weitere Probleme sorgten Insolvenzen von Privateigentümern, wie etwa der Insolvenz des österreichischen Unternehmens Level One im Jahr 2008.

3. Die politische Benachteiligung der Großsiedlungen

Noch problematischer als die Privatisierung ist die doppelte Benachteiligung der Großsiedlungen durch die Politik.

Die erste Benachteiligung hängt damit zusammen, dass die Gebäudesanierung derzeit vor allem durch Steuerabschreibungsmöglichkeiten, wie die Sanierungsabschreibung und die Denkmalabschreibung, gefördert wird. Von diesen Abschreibungen können aber nur einkommensstarke private Hauseigentümer, nicht aber kommunale Wohnungsbaugesellschaften oder Wohnungsgenossenschaften Gebrauch machen. Die Großsiedlungen gehen daher bei diesen Steuersubventionen in der Regel leer aus.

Das zweite Benachteiligung ist das Bund-Länder-Programm "Stadtumbau Ost". Dieses Programm soll eigentlich den Wohnungsleerstand durch eine Kombination von Abriss- und Aufwertungsmaßnahmen reduzieren. In der Praxis allerdings wird der Stadtumbau Ost durch Abrisse dominiert. Einerseits werden Aufwertungsmittel nur dann gewährt, wenn gleichzeitig abgerissen wird. Andererseits werden die Fördergelder für den Abriss komplett vom Bund und von den Ländern übernommen, während die Aufwertungsgelder zu einem Drittel durch die Kommunen kofinanziert werden müssen. Viele finanzschwache Kommunen können diese Kofinanzierungen nicht leisten.

Ein weiteres Charakteristikum des "Stadtumbau Ost"-Programms besteht darin, dass die Abrissförderung nicht gleichberechtigt gewährt wird. Im Gegenteil: Gefördert wird fast ausschließlich der Abriss von Gebäuden, die nach 1919 errichtet wurden. Nicht nur die Nachkriegsbauten, sondern auch der sozial orientierte Wohnungsbau der Weimarer Republik wird dadurch dem Abrissbagger ausgeliefert, während der privatspekulative Mietshausbau der Kaiserzeit als erhaltenswert eingestuft wird.

Eine ähnliche Tendenz zeigt sich bei den Eigentümergruppen, die vom "Stadtumbau Ost"-Programm besonders gefördert werden. Besonders hohe Abrissförderungen erhalten die kommunalen Wohnungsgesellschaften und die Wohnungsgenossenschaften. Denn diese Akteure erhalten durch das Programm nicht nur eine Abrisspauschale von 50 bis 70 Euro pro Quadratmeter abgerissenen Wohnungsraums, sondern auch eine Altschuldentilgung von bis zu 75 Euro pro Quadratmeter abgerissenen Wohnraums. Die Privateigentümer dagegen, die in der Regel nicht mit Altschulden belastet sind, erhalten auch keine Altschuldenhilfe.

Diese Programmkonstruktion hatte zur Folge, dass in Ostdeutschland von 2002 bis Ende 2007 22100 Wohnungen abgerissen wurden, von denen wiederum über 80 Prozent aus der Nachkriegszeit stammten und von denen 94 Prozent den kommunalen Wohnungsgesellschaften und Wohnungsgenossenschaften gehörten.[6] In der Praxis führte das Programm "Stadtumbau Ost" also zu einer Schwächung der Position der kommunalen Wohnungsgesellschaften und der Genossenschaften.

Eine weiteres Problem des "Stadtumbau Ost"-Programms ist der Mangel an Bürgerbeteiligung. Im Gegensatz zu anderen Städtebauförderungsprogrammen werden für den Stadtumbau Ost keine Verfahren zur Bürgerbeteiligung vorgesehen. Auch deshalb wurden in vielen Städten Entscheidungen über den Abriss von Wohnblöcken zwischen den Stadtverwaltungen und den Wohnungsunternehmen ohne Beteiligung der Bürger ausgekungelt. Oft wurden selbst gut belegte Wohnblöcke gegen den Willen der Bürger entmietet und abgerissen, häufig wurde den betroffenen Bürgern nicht einmal eine gleichwertige Ersatzwohnung zu vergleichbaren Mieten angeboten. Etliche Bürger mussten sogar zwei- oder dreimal umziehen, weil die Ersatzwohnungen bald auch abgerissen wurden.

Dank des "Stadtumbau Ost" - Programms wurde auch in Städten abgerissen, die gar nicht von der Schrumpfung betroffen waren. So wurden in Jena über 1000 Wohnungen abgerissen. Heute gibt es in Jena eine dramatische Wohnungsnot, und Studenten müssen bei ihrer Quartierssuche auf Nachbarstädte ausweichen. Auch in Berlin wurden rund 4500 preiswerte Wohnungen abgerissen. Heute gibt es in Berlin einen zunehmenden Mangel an preiswerten Wohnungen.

Der "Stadtumbau Ost" brachte aber noch weitere Probleme, wie eine Unterauslastung der Infrastruktur, mit sich. Siedlungen, die über eine hervorragende Straßenbahnerschließung verfügten, wurden flächenhaft abgerissen, mit dem Resultat, dass die Straßenbahn durch menschenleere Niemandsländer fährt und entsprechend schlecht ausgelastet ist. Ähnlich gedankenlos wurde im Einzugsbereich von Fernwärmenetzen abgerissen.

4. Konflikte

Diese Negativfolgen sorgten und sorgen für heftige Konflikte. In vielen Städten gründeten sich Bürgerinitiativen, die auf mehr Bürgerbeteiligung beim Stadtumbau drängten. Beispiele sind die Bürgerinitiative Wohnkomplex 6 in Halle-Neustadt, die Bürgerinitiative Stadtumbau Frankfurt/Oder, die Bürgerinitiative Hutholz Süd in Chemnitz oder die Bürgerinitiative Wiesenhügel in Erfurt. Einige Initiativen, wie in Halle-Neustadt, Erfurt-Wiesenhügel oder Berlin-Marzahn Nordwest, konnten Teilerfolge erzielen und Abrisse verhindern. Andere Bürgerinitiativen wurden dagegen von den Stadtverwaltungen und Wohnungsunternehmen ignoriert.

Gleichzeitig gab aber auch Hauseigentümer, die sich den Abrissplanungen widersetzten. Ein Beispiel ist die Wohnungsgenossenschaft Wurzen, die 1999 einen Wohnungsleerstand von 6,1 Prozent verzeichnete. Die Stadtverwaltung reagierte auf die Leerstandsprobleme 2001 mit der Erarbeitung eines Integrierten Stadtentwicklungskonzeptes, in dem der Abriss von 447 Wohnungen der Genossenschaft festgelegt wurde, und das, obwohl nur 97 Genossenschaftswohnungen leer standen. Die Wohnungsgenossenschaft Wurzen verweigerte sich der Umsetzung dieser Abrissvorgaben und setzte stattdessen auf die Aufwertung ihrer Bestände. Sie sorgte für die energetische Sanierung ihrer Wohnungen, für den Anbau von Balkonen und für den altersgerechten Umbau einiger Wohnungen. Gleichzeitig wurde der Service verbessert. Beispielsweise wurde ein Begegnungszentrum eingerichtet, in dem Mal- und Handarbeitskurse, Vorträge sowie Beratungen zu Renten- oder Rechtsfragen angeboten wurden. Dank dieser Maßnahmen konnte der Wohnungsleerstand ganz ohne Abrisse auf 2,14 Prozent reduziert werden.

Sehr konfliktreich gestaltete sich der Stadtumbau in Chemnitz. Hier strebte das Stadtplanungsamt jahrelang den flächigen Abriss der Wohngebiete Hutholz Süd und Markersdorf Süd an. Ein wichtiger Eigentümer, die Wohnungsgenossenschaft (WG) Einheit, lehnte diese Abrissplanungen allerdings ab. Denn die in reizvoller Hügellage gelegenen Wohngebiete, die reizvolle Fernsichten boten, waren bei vielen Mietern durchaus beliebt. Deshalb verwirklichte die WG Einheit ein komplexes Umbaukonzept, das auf eine Aufwertung dieser Wohngebiete abzielte. Zu den Maßnahmen zählten eine energetische Sanierung, der Anbau von Aufzügen, der Neubau von Parkhäusern und Garagen sowie der Umbau der Wohnungsgrundrisse. Ein Teil der Wohnblöcke wurde altersgerecht umgebaut und durch Seniorenzentren oder Pflegestationen ergänzt. Einige Gebäude wurden in reihenhausähnliche Wohnhäuser mit Gärten umgebaut, die vor allem für junge Familien geeignet sind. Einige unattraktive Wohnblöcke wurden auch abgerissen. Allerdings wurden die Abrissflächen nicht der Verwilderung überlassen, sondern kreativ umgenutzt. Auf einer Abrissfläche entstand der Park "Markersdorfer Oase", eine andere Abrissfläche wurde in ein Einfamilienhausgebiet verwandelt, das gut vermarktet werden konnte. Zudem kümmerte sich die WG Einheit auch um die Stärkung der öffentlichen Infrastruktur. Beispielsweise beteiligte sie sich an der Sanierung einer Kindertagesstätte und an der Umgestaltung einer öffentlichen Grünfläche in Markersdorf Süd.

Das Stadtplanungsamt versuchte immer wieder, die Aktivitäten der WG Einheit zu konterkarieren. Beispielsweise wurden regelmäßig die für die Beantragung von Fördergeldern notwendigen Kommunalbestätigungen verweigert. Deshalb musste die Genossenschaft viele Umbauten ohne Fördergelder durchführen. Dennoch war der Kurs der WG Einheit erfolgreich. Der Wohnungsleerstand konnte von 25 Prozent im Jahr 2003 auf derzeit 5 Prozent reduziert werden.

Auch andere Wohnungsunternehmen verzichteten auf Abrisse. Die Warener Wohnungsgenossenschaft konnte ihren Leerstand ganz ohne Abriss auf 0,4 Prozent senken, die Wohnungsgenossenschaft in der sächsischen Kleinstadt Waldheim verzichtete ebenfalls auf Abrisse und verzeichnet derzeit einen Leerstand von 0,7 Prozent. Die Statistiken beweisen, dass Leerstände auch ohne Abrisse reduziert werden können.

Mittlerweile sind die Wohnungsunternehmen immer weniger zur Umsetzung massenhafter Abrisse bereit. In Sachsen wurden beispielsweise 2005 noch 100 Prozent aller bereitgestellten Rückbaumittel aus dem Programm "Stadtumbau Ost" abgerufen. Dieser Wert sank 2006 auf 97 Prozent, 2007 auf 75 Prozent, und 2009 wurden gar nur 51 Prozent der bereitgestellten Rückbaumittel abgerufen.

Der massenhafte Abriss stößt also auf wachsende Widerstände. Allerdings sind die Initiativen für eine Stärkung der Großsiedlungen oft lokal begrenzt und wenig vernetzt. Ein Zusammenwirken von Bürgerinitiativen, Politikern Wohnungsunternehmen und Stadtplanern und Medien ist eher die Ausnahme als die Regel. Eine nachhaltige Lobbyarbeit wird durch diese Zersplitterung verhindert.

D. Politischer Reformbedarf

Aus diesen Problemen ergeben sich mehrere Reformvorschläge:

Erstens: Eine Forderung ist die Stärkung der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft. Beispielsweise wäre es sinnvoll, die bereits 1988 abgeschaffte Wohnungsgemeinnützigkeit wieder einzuführen, als ein Vorteil für Wohnungsunternehmen, die soziale und ökologische Standards einhalten.

Zweitens: Weitere Privatisierungen öffentlicher Wohnungsbestände müssen verhindert werden.

Drittens: Die öffentliche Förderung des Wohnungsbaus sollte so umgebaut werden, dass sie die gemeinnützige Wohnungswirtschaft stärkt. Ein Vorschlag wäre die Schaffung einer neuen Sozialen Wohnraumförderung, die sich in wichtigen Punkten gegenüber dem bisherigen Sozialen Wohnungsbau unterscheidet.

a.) Fördergelder werden nur für gemeinnützige Wohnungsunternehmen, nicht aber für Fonds oder Privateigentümer gewährt.

b.) Fördergelder werden nur dann gewährt, wenn die geförderten Wohnungen dauerhaft im Bestand der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft verbleiben.

c.) Fördergelder können je nach Bedarf flexibel eingesetzt werden, beispielsweise für energetische Sanierung, Neubau, altersgerechter Umbau.

Zur Gegenfinanzierung dieser Wohnungsbauförderung sollten die bisherigen Steuerabschreibungen im Baubereich komplett gestrichen werden.

Viertens: Das Programm "Stadtumbau Ost" sollte komplett gestrichen werden. Stattdessen sollten die Altschulden, die viele Wohnungsunternehmen noch immer belasten, bedingungslos gestrichen werden. Weiterhin wäre ein Rettungsfonds für insolvenzgefährdete Wohnungsunternehmen denkbar, der in Notfällen unter bestimmten Bedingungen Hilfen für gefährdete Wohnungsunternehmen gewährt.

Derartige Reformen könnten den Umbau der Großsiedlungen zu sozialen und ökologischen Modellsiedlungen unterstützen. Vor allem aber benötigt wird ein neuer Blick auf diese Stadtstrukturen. Gefragt ist eine Sicht, die nicht in Vorurteilen stecken bleibt, die nicht nur die Defizite, sondern auch die Chancen dieser Siedlungen erkennt. Dann könnten die oft verkannten Siedlungen einen Beitrag zur sozialen und ökologischen Erneuerung unserer Städte leisten.

Matthias Grünzig


[1] Guratzsch, Dankwart: Die sozialistische Großsiedlung ist tot, Die Welt, 23.2.2001

[2] Koelbl, Susanne: Da hilft nur noch Dynamit, Der Spiegel, Heft 41/2000, S. 88 f.

[3] Institut für ökologische Raumentwicklung Dresden (IÖR): IÖR warnt vor einseitiger Kritik an Abrissmaßnahmen beim Stadtumbau Ost, Pressemitteilung vom 6.2.2008

[4] Michelsen, Claus; Müller-Michelsen, Silke: Energieeffizienz im Altbau: Werden die Sanierungspotenziale überschätzt? Ergebnis auf der Grundlage des ista-IWH-Energieeffizienzindex, in: Wirtschaft im Wandel, Heft 9/2010, S. 447-455

[5] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): 4. Statusbericht - Stadtumbau vor neuen Herausforderungen, Berlin 2010, S. 67

[6] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung; Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.): Evaluierung des Bund-Länder-Programms Stadtumbau Ost, Berlin 2008, S. 72 ff.